BLOG: 04.05.2022

Wer rettet das Feierabendbier?

Entlohnungssysteme

In einer Zeit der Selbstoptimierung und Kontrolle wirkt das Feierabendbier wie ein Relikt der Vergangenheit. Aber nach der langen Pandemie wissen wieder viele Kollegen die Gelegenheit zu schätzen, sich in gemütlicher Runde zu unterhalten und sich besser kennenzulernen. Denn in der stressigen Arbeitsroutine bleibt dafür kaum Zeit - und im Home Office ohnehin nicht.

Am Freitag saß ich mit einem Kollegen beim Mittagessen. Dabei überraschte er mich mit einer Frage. „Wie wäre es eigentlich, wenn wir jetzt dazu ein Bier trinken?“ Ein Bier? Und das um eins? An einem Werktag? Ungeheuerlich. „Hätte ich ziemliche große Lust zu“, gab ich zurück. Trinken nicht die Franzosen und Italiener auch schon Mittags ein Weinchen? Also, was soll’s. Zwei Pils bitte. „Morgen ist übrigens der Tag des Bieres“, sagte der Kollege. Wir stellten fest, dass wir beide die gleiche Hemmschwelle haben, was erstaunlich ist, da wir beide selbstständig arbeiten. Wie muss es dann erst einem Angestellten gehen, der sich, durch die allgemeine Lockerheit an einem Casual Friday dazu verleitet, in der Kantine tollkühn ein Bier bestellt?

 

Selbstkontrolle in der Freizeit

Geradezu skandalös. Journalisten galten früher als trinkfreudige Gesellen, aber die Geschichten, die heute in Redaktionen erzählt werden, klingen wie Räuberpistolen aus der Vergangenheit. Kennst du noch den, der immer einen Flachmann in der Schublade hatte, oder den, der bei der Konferenz eine Fahne hatte? Unvorstellbar in einer Zeit der Selbstoptimierung- und Kontrolle. Die sich längst nicht auf die reine Arbeitszeit, sondern auch bis in die Freizeit erstreckt. Und auf die Zeit dazwischen, diese schwer durchschaubare Zone des After Work, in der es um geheimnisvolles, ein mancherorts längst vergessenes Ritual geht: das Feierabendbier.

 

Online an die Bar

In einer Zeit der Selbstoptimierung- und Kontrolle wirkt das Feierabendbier mitunter wie ein Relikt der Vergangenheit. Aber nach der langen, mit viel Einsamkeit verbundenen Corona-Pandemie schätzen wieder viele die Gelegenheit, sich in gemütlicher Runde mit Kollegen zu unterhalten und diese besser kennenzulernen. Denn in der stressigen Arbeitsroutine bleibt dafür kaum Zeit - um im Home Office ohnehin nicht. Dieses Manko wollen sogar einige digitale Konferenz-Tools beheben, in denen man „an die Bar“ gehen kann. Dort ist dann auch ein Feierabendbier erlaubt.

 

Schlechte Witze

Egal, ob on- oder offline: nach acht Stunden im Büro noch mehr Zeit mit Kollegen zu verbringen, ist nicht jedermanns Sache. Viele trennen strikt zwischen beruflichen Kontakten und Familie oder Freunden und gehen After-Work-Veranstaltungen unter Kollegen konsequent aus dem Weg. Zu Weihnachtsfeiern machen sie eine Ausnahme. Dabei kann es durchaus karriereförderlich sein, sich mal von der entspannten Seite zu zeigen, was naturgemäß außerhalb des Büros besser geht. Natürlich hat das auch mit dem Alter und der Lebenssituation zu tun. Wer jung und ungebunden ist, schließt auch im Kollegenkreis gern neue Bekanntschaften. Dem macht es dann auch Spaß, die Kollegen mal authentisch zu erleben und ihre anderen Seiten kennenzulernen.

 

Gut gelaunt genießen

Bei Start-ups ist das gemeinsame Abhängen nach Feierabend eh gang und gäbe, bei einem konservativen Pharmaunternehmen eher weniger, und so hängt es auch von der Unternehmenskultur ab, in wie weit die berufliche und private Sphäre getrennt wird. Eine gewisse Affinität zum sogenannten Flurfunk ist beim Feierabendbier durchaus zuträglich, denn hier treffen sich gern Kollegen, die bei Firmeninterna und Büroklatsch auf dem Laufenden bleiben wollen, um es mal ganz vorsichtig zu sagen. Eine Faustregel besagt: ist die Stimmung in der Firma gerade gut, dann ist es auch das Feierabendbier. Leider gilt das auch umgekehrt. Denn wenn alle im Stress sind, schaukelt sich das beim Bier gern hoch, und das war es dann mit der gelösten, lockeren Atmosphäre.

 

Der Chef als Wohltäter

Besonders unangenehm sind Pflichttermine, etwa, wenn der Chef alle nach Feierabend in die Bar bittet und sich dann wundert, in säuerliche Gesichter zu sehen. Denn so kommt Lockerheit garantiert nicht auf. Vorgesetzte sind gut beraten, sich auf Augenhöhe zu besaufen. Aber auch ohne Chef kann die Sache ins Auge gehen, etwa, wenn immer die gleichen Leute zusammenstehen. So entwickelt sich meist keine gute Atmosphäre. Einige Chefs dagegen sehen das anders, fühlen sich als Wohltäter und glauben, mit der Einladung zum Feierabendbier die Stimmung aufzulockern, nach dem Motto: da lassen wir mal Fünfe gerade sein oder die Seele baumeln. Die dirty truth ist allerdings: lustig wird es meist erst, wenn der Chef weg ist. Traurig sind dann meist nur die im Kollegenkreis sehr unbeliebten „Chef-Kraken“, die sich den ganzen Abend lang nur mit dem Chef unterhalten.

 

Der kommt eh nicht mit, der Stiesel

So sind Vorgesetzte gut beraten, solche Umtrunke auf das Nötigste zu beschränken, die ohnehin unvermeidliche Weihnachtsfeier oder nach dem Abschluss eines erfolgreichen Projekts. Agenturen feiern gern, wenn ein wichtiger Kunde für Ihre Firma gewonnen werden konnte. Das gemeinsame Feierabendbier mit einer fadenscheinigen Ausrede abzulehnen, ist natürlich auch keine gute Idee. Der Chef könnte auf die Idee kommen, dass man ein Spielverderber, Stiesel, schlechter Teamplayer oder sonst was ist. Wohl dem, der eine Ausrede parat hat, Familie, Kinder oder noch etwas für die Arbeit vorbereiten zu müssen sind hier die Klassiker.

 

Klassiker der Ausreden

Beim After-Work-Feierabendbier ist es unvermeidlich, dass man auf Leute aus anderen Unternehmen trifft. Bei weniger bekannten Gesichtern ist eine gewisse Vorsicht angebracht, denn so manche Information sollte lieber im Unternehmen bleiben. Ein Klassiker der Agenturszene: Eine Agentur hat einen wichtigen Kunden verloren, was aber noch nicht gesagt werden darf. Macht aber schon die Runde. Hab ich beim After-Work gehört. Fazit: eine allzu lockere Zunge im Biergarten, Kneipe oder Cocktailbar hat sich gelegentlich als wenig karriereförderlich erwiesen. Sich hemmungslos zu betrinken übrigens auch nicht. Wer nach dem zweiten Bier noch ein drittes oder viertes ordert, darf sich am folgenden Arbeitstag nicht über mitleidige Blicke wundern.

 

Lästern ist Tabu

Nächstes Tabu: Lästern. Alle lieben es, und manchmal kann man nach dem dritten Bier kaum widerstehen zu erzählen, was für ein Volltrottel jetzt in der IT arbeitet. Das Paradoxon des Feierabendbiers ist, das es eigentlich den Rahmen bilden sollte, nach einem stressigen Arbeitstag auch mal Luft abzulassen. Aber negative Formulierungen fallen in einer Zeit der zunehmenden Selbstkontrolle auf den zurück, der sie ausspricht.

 

Todfeinde der Lockerheit

Ein absoluter Stimmungskiller beim Feierabendbier ist übrigens das Netzwerken. Nichts ist schlimmer als Leute, die die lockere Atmosphäre nur dazu ausnutzen, um im Unternehmen voran zu kommen oder beim Bier erste Schritte in Richtung Job-Hopping zu machen. Dafür ist das Feierabendbier nicht da. Gegen neue private Kontakte ist nichts einzuwenden, und oftmals ist das Networking ja auch nur der Vorwand, um solche Bekanntschaften zu machen. Bei sozialen Online-Business-Netzwerken wie Xing und LinkedIn häufen sich die Beschwerden über Anmache. Auf der anderen Seite des Spektrums stehen die Angsthasen, die den ganzen Umtrunk über von der Panik getrieben werden, in irgendein Fettnäpfchen zu treten und bevorzugt alkoholfreies Bier trinken.

 

Der Teufel hat den Schnaps gemacht

Vom Standpunkt der spaßverderbenden Medizin aus gesehen sind sie damit sogar im Recht. Eine aktuelle Untersuchung hat jetzt mit dem Irrglauben aufgeräumt, dass ein Glas Wein oder Bier am Abend gesundheitsförderlich sein kann. Alkohol ist in geringen Mengen zwar nicht schädlich für gesunde, erwachsene Menschen, kann aber in höheren Mengen konsumiert viele gesundheitliche Schäden auslösen. Das heimliche Trinken von Alkohol am Arbeitsplatz gilt zudem als Hinweis auf einen Alkoholiker. Bei Männern gelten 24 Gramm Alkohol täglich als okay, was zwei kleinen Bieren entspricht, bei Frauen gelten 12 Gramm als unbedenklich.

 

Der Bierbauch ist keiner

Grundsätzlich sollten größere Mengen Alkohol vermieden werden. 1,25 Liter Bier oder 0,6 Liter Wein für Männer, für Frauen die Hälfte, sind bereits solche größere Mengen. Selbst wer sich an die Dosis von 24 bzw.12 Gramm hält, sollte mindestens zwei alkoholfreie Tage pro Woche einhalten. Eine ebenfalls störende Nebenwirkung ist, dass Hopfen den Appetit anregt. Der viel zitierte Bierbauch geht nämlich meist auf verstärkten Hunger, und weniger auf Bierkonsum zurück.

 

Rettung für das Feierabendbier

Allen Unkenrufen zum Trotz liegt Deutschland mit einem durchschnittlichen Pro-Kopf-Konsum von rund 92 Litern pro Jahr beim weiten Bierkonsum noch immer auf dem fünften Rang. Ganz vorn liegen die Tschechen mit 180 Litern vor Österreich, Polen und Rumänien. Das Feierabendbier gab es übrigens schon im alten Ägypten  - den Pyramidenbauern standen täglich nach getanem Werk zwei Krüge Bier zu. Beamte und Soldaten wurden sogar damit bezahlt. Vielleicht auch eine interessante Idee für heutige Zeiten, für mehr Lockerheit und weniger Selbstkontrolle.