BLOG: 07.11.2024
Korrigiert: „Unsere Komfortzone ist zu einer Sackgasse geworden“ – Ein Interview mit Raphael Gielgen.
New WorkRaphael Gielgen analysiert weltweit Trends in der Arbeitswelt. Nach seiner Auffassung befinden wir uns in einem tiefgreifenden Kulturwandel. Eine radikale Transformation, die zu großen Veränderungen in der Wirtschaft führt. Im Interview erklärt der Trendscout, wie sich Unternehmen darauf einstellen können.
GRAEF Office: Herr Gielgen, was ist das spezielle am kulturellen Wandel, in dem wir uns derzeit befinden?
Raphael Gielgen: Dass wir eine fundamentale Transformation erleben, die weit über einen weiteren Konjunkturzyklus hinausgeht. Die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen haben sich dramatisch verändert: Die Energiekosten sind hoch, der Ressourcenverbrauch ist ein entscheidender Faktor, und die Globalisierung stagniert durch zunehmende Blockbildung. Diese neue Realität zwingt Unternehmen dazu, sich anzupassen, ob sie wollen oder nicht. Gleichzeitig befinden wir uns inmitten einer technologischen Revolution, die mehrere Schlüsseltechnologien – wie Robotik, IoT, KI und Augmented Reality – miteinander verknüpft. Diese Technologien beeinflussen sich gegenseitig und verstärken den Wandel. Wir leben in einer Zeit, die völlig anders ist als alles, was wir bisher gekannt haben.
Für eine „Beschleunigung der Beschleunigung“ sorgt vor allem die künstliche Intelligenz.
Absolut. Die technologische Entwicklung verläuft nicht linear, sondern exponentiell. Besonders KI hat diese Dynamik weiter beschleunigt. Ich selbst merke das täglich – ich muss jetzt viel mehr lesen und mich weiterbilden, um überhaupt Schritt halten zu können. Die Führungskräfte von heute stehen vor der Herausforderung, dass es keine klaren Endpunkte mehr gibt. Der traditionelle Gedanke von Transformation greift hier nicht mehr. Es geht nicht mehr nur um Anpassung, sondern um ein permanentes Operieren in einem Modus ständiger Veränderung. Früher war ein Unternehmen wie ein Behältnis mit festen Regeln – heute gleicht es eher einer Notfallambulanz, in der man nie weiß, was der Tag bringt.
Ist das eine spezifisch deutsche Herausforderung? Wir haben ja beispielsweise die Transformation vom Benzin- zum Elektromotor verschlafen.
Es ist mehr als das. Japan, eine Volkswirtschaft, die unserer ähnlich ist, hat es anders gemacht: Dort steht der Kunde im Zentrum, und Unternehmen reagieren flexibel auf dessen Bedürfnisse. Diese Anpassungsfähigkeit fehlt uns oft, weil wir den Fokus zu sehr auf das Produkt und weniger auf den Kunden gelegt haben. Das Resultat ist, dass wir uns in einer schlechten Beziehung wiederfinden, in der wir aneinander vorbei leben. Diese Starrheit wird uns nun zum Verhängnis.
Welche grundlegenden Annahmen über die Arbeitswelt werden Ihrer Meinung nach aktuell infrage gestellt?
Eine der größten Annahmen, die jetzt infrage gestellt wird, ist die Dauerkarriere – die Idee, dass man sein ganzes Berufsleben in einem Unternehmen oder einer Branche verbringt. Ebenso wird der Wert des traditionellen Arbeitsversprechens hinterfragt. Früher konnte man durch Arbeit Wohlstand und Sicherheit erreichen; heute gilt das nicht mehr in gleicher Weise. Auch der Ort der Arbeit verändert sich drastisch. Wir müssen uns fragen, warum wir überhaupt noch zusammenkommen, wenn so vieles auch ortsunabhängig erledigt werden kann.
Muss Arbeit heute völlig neu definiert werden?
Es geht weniger darum, Arbeit neu zu definieren, als vielmehr zu akzeptieren, dass sich der „Polarstern“ der Arbeit verändert hat. Wir als Gesellschaft müssen uns den neuen Realitäten stellen und uns darauf einstellen, dass dieser Wandel mit Schmerz und Anstrengung verbunden ist. Unsere Komfortzone ist zu einer Sackgasse geworden, und jetzt müssen wir den Mut aufbringen, das Ruder herumzureißen.
Sie reisen viel und beobachten die Entwicklungen in verschiedenen Ländern. Welche Erkenntnisse haben Sie dabei gewonnen, die auch für uns relevant sind?
Eine meiner wichtigsten Erkenntnisse ist die Rolle des Staates als erster Investor in Schlüsseltechnologien. Länder wie die USA und China investieren massiv in Zukunftstechnologien wie KI und erneuerbare Energien, während wir in Europa oft hinterherhinken. Ein weiteres entscheidendes Thema ist die Fähigkeit zur schnellen Anpassung. Japanische Unternehmen wie Panasonic, die einst für Unterhaltungselektronik bekannt waren, haben sich beispielsweise erfolgreich auf Energiespeicherung spezialisiert. Und schließlich spielt die Bildung eine zentrale Rolle: Länder wie Singapur investieren gezielt in die Weiterbildung ihrer Bevölkerung, um diese fit für die Arbeitswelt von morgen zu machen. Diese Initiativen gehen weit über das hinaus, was wir hierzulande kennen.
Welche Rolle spielen Unternehmen in dieser Transformation?
Eine sehr große. Unternehmen müssen die Realität akzeptieren und ihre Strukturen anpassen, um in dieser neuen, dynamischen Welt bestehen zu können. Ein Beispiel ist die Arbeiterwohlfahrt in Mönchengladbach, die sich von einer starren, bürokratischen Organisation zu einer agilen, dezentralen Struktur gewandelt hat. Diese Transformation hat nicht nur ihre Effizienz gesteigert, sondern sie auch zu einem attraktiveren Arbeitgeber gemacht. Das zeigt, wie wichtig es ist, alte Muster zu durchbrechen und neue, flexible Arbeitsmodelle zu entwickeln.
Sie sprechen oft von Co-Creation und sozialem Lernen. Warum sind diese Konzepte so entscheidend für die Zukunft der Arbeit?
In einer wissensbasierten zu einer fähigkeitsbasierten Ökonomie ist die Fähigkeit, schnell und effektiv zu lernen, entscheidend. Co-Creation ermöglicht es, über Disziplinen hinweg zu lernen und zu innovieren. Das beste Beispiel dafür ist die Arena2036 in Stuttgart, in der Unternehmen, Start-ups und Wissenschaftler gemeinsam an den großen Fragen der Zukunft arbeiten. Solche Orte des sozialen Lernens werden immer wichtiger, weil sie es ermöglichen, in kürzester Zeit mehr zu lernen und sich schneller an neue Gegebenheiten anzupassen. Wenn man mehr in kürzerer Zeit lernen möchte, geschieht das nicht durch passives Konsumieren von Wissen, wie etwa durch das Lesen von Büchern oder das Hören von Podcasts. Vielmehr lernt man durch regelmäßige Iterationen und den Austausch mit unterschiedlichen Menschen. Es geht also darum, Arbeitsumgebungen so zu gestalten, dass sie dieses soziale Lernen fördern.
Wie könnte denn eine Arbeitsumgebung gestaltet sein, um Co-Creation optimal zu ermöglichen?
Der erste und wichtigste Punkt ist Sichtbarkeit. Jeder sollte schnell einen Überblick darüber bekommen, wer im Raum ist und woran gearbeitet wird. Ein flexibler Raum, der wie eine Grundschulturnhalle Aktivitäten in unterschiedlichen Gruppengrößen und Zeitspannen zulässt, ist ebenfalls essenziell. Der Raum sollte in seiner Gestaltung immer daran erinnern, was noch getan werden muss, und ein gewisses Maß an Herausforderung bieten. Es muss Raum für Rückzug und Erholung geben, aber gleichzeitig auch Orte, die die Arbeit neu definieren, wo man sprichwörtlich ins Schwitzen kommt und die Grenzen seiner Fähigkeiten austestet.
Inwieweit spielen dabei Roboter eine Rolle?
Roboter werden in Zukunft eine viel größere Rolle außerhalb von Fabriken spielen. Wir werden zunehmend autonome Systeme sehen, die einfache, repetitive Aufgaben übernehmen – insbesondere in Bereichen, in denen es an menschlichen Arbeitskräften mangelt. Entscheidend dabei ist die Entwicklung von Betriebssystemen, die es diesen Robotern ermöglichen, sich in Gebäuden zu orientieren, zu lernen und auf Bedürfnisse zu reagieren. Hier arbeiten Unternehmen wie Naver aus Korea an entsprechenden Lösungen.
In Bezug auf Unternehmen, die neue Arbeitsumgebungen gestalten, wie können sie sich im sogenannten „Talent War“ behaupten?
Unternehmen müssen die Gestaltung ihrer Büros auf eine neue Ebene heben. Es reicht nicht mehr, nur funktionale Arbeitsplätze zu bieten. Es geht darum, Räume zu schaffen, die in einem größeren Kontext stehen, die Narrative und Emotionen vermitteln. Das Büro muss eine Schlüsselressource sein, die aktiv zur Unternehmenskultur und -identität beiträgt. Unterschiedliche Unternehmen brauchen unterschiedliche Räume – ein Konzept, das für den einen Betrieb funktioniert, kann für einen anderen eine Überforderung sein. Wichtig ist es, ein Gespür für die spezifischen Bedürfnisse des Unternehmens und seiner Mitarbeiter zu entwickeln.
Wie beeinflusst die zunehmende Digitalisierung und Virtualisierung der Arbeitswelt die Gestaltung physischer Arbeitsräume?
Die Konkurrenz zwischen physischen und virtuellen Welten wird immer intensiver. In einer Zeit, in der durch Technologien wie Augmented Reality oder KI die Grenzen zwischen diesen Welten verschwimmen, wird es immer schwieriger, physische Räume zu gestalten, die mit den immersiven Erlebnissen der virtuellen Welt mithalten können. Der physische Raum muss authentisch und architekturstark sein, weniger laut und bunt als früher, aber dafür umso prägnanter.
Könnte es zukünftig sogar sein, dass physische Räume vollständig durch virtuelle ersetzt werden?
Diese Entwicklung ist nicht ausgeschlossen. Wir könnten in einer Zukunft leben, in der man ein Unternehmen betritt, das physisch minimalistisch gestaltet ist, aber durch eine Brille eine vollständig virtuelle Welt erfahrbar macht. Diese Vorstellung mag Angst machen, aber sie zeigt auch, wie tiefgreifend die Veränderungen sein können. In einer solchen hybriden Welt ist es unsere Aufgabe, physische und virtuelle Erlebnisse so zu gestalten, dass sie zusammenwirken und die Bedürfnisse der Menschen erfüllen.
Inwiefern bleibt in einer solch stark virtualisierten Welt noch Raum für den menschlichen Gestaltungswillen?
Wenn jeder alles machen kann, besteht die Gefahr, dass die Welt eintönig wird. Der Wert des Besonderen, des Einzigartigen, liegt dann in der physischen Welt, weil diese nicht so leicht reproduzierbar ist wie virtuelle Inhalte. Auch wenn KI und Digitalisierung vieles verändern, bleibt die Gestaltung von physischen Räumen eine Herausforderung, die unsere Kreativität und unser Einfühlungsvermögen fordert.
Vielen Dank für das Gespräch, Herr Gielgen.
Danke, es war mir eine Freude.
Interview: Guido Walter