BLOG: 16.03.2022

Tool Overload: Wenn der Wahnsinn zur Regel wird

Time matters

Zu viele Tools am Arbeitsplatz können im Büro zu Frust und Überforderung führen. Vom Tool-Overload bis zur digitalen Erschöpfung ist es meist nur ein kurzer Weg. Zeit, gegenzusteuern.

Beliebt ist er in den meisten Unternehmen nicht, aber gefragt wird er im Büro dennoch ziemlich oft: der IT-Checker. Bei Schulungen ist er der erste im Raum, bei Webinaren schaltet er sich als erster zu. Er bezieht seinen Stolz daraus, alle neuen digitalen Tools, die seine Firma im Wochentakt einführt, möglichst schnell zu durchschauen. Davon verspricht er sich berufliche Vorteile im innerbetrieblichen Konkurrenzkampf. „Was? Du hast damit noch nicht gearbeitet?“ Das ist eine typische Checker-Frage. Eine Frage wird man von ihm allerdings nie hören: „Was soll das eigentlich alles?“

 

We simply LOVE this new Softwarelösung

Denn der eifrige IT-Checker ist in vielen Firmen eher die Ausnahme als die Regel. Zu viele Tools am Arbeitsplatz können zu Frust und Überforderung führen, aber darüber spricht man nicht so gern. Die Software erreicht gelegentlich das Gegenteil von dem, was mit ihrer Einführung ursprünglich beabsichtigt war: sie macht die Dinge nicht einfacher, sondern komplizierter. Neue Tools werden in Unternehmen zumeist mit schöner Begleitmusik eingeführt: "Diese neue Software-Lösung ist ja so einfach! We simply LOVE this new Softwarelösung! Sie ist effektiv, steigert die Produktivität, macht Arbeitsabläufe effizienter!" Von wegen. Jeder fünfte Beschäftigte sagt heute, mit der Vielzahl unterschiedlicher digitaler Tools überfordert zu sein. Das ist dann ein Zustand, den der Autor Markus Albers in seinem Buch „Digitale Erschöpfung“ beschreibt.

 

Wenn das Mind-Mapping-Tool nervt

Der „Tool Overload“ wird heute oft beklagt, und dazu trägt Kollaborationssoftware entscheidend bei. Warum haben wir Slack, wenn wir nicht auch noch Trello haben können? Gut beobachten lässt sich der Wahnsinn bei Videokonferenzen. „Team geht bei mir gerade nicht, können wir Meet oder Zoom nehmen?“ Nein, lieber Whereby, oder: Slack. Da ist ja auch eine Konferenzfunktion implementiert. Eine Berliner Agentur wollte kürzlich die Mitarbeiter zur Ideenfindung anregen. Angeschafft wurde ein Mind-Mapping-Tool, das aber viel zu kompliziert zu bedienen war. Genommen wurde am Ende eine einzige Mitarbeiter-Idee: die Abschaffung des neuen Mind-Mapping-Tools.

 

Jeder vierte beklagt den Tool-Overload

Ein solches Verständnis für "weniger ist mehr" ist aber nicht die Regel. Normalerweise wird nicht abgerüstet, sondern draufgesattelt: "Wir haben ein neues Programm für das Prozess- und Projektmanagement und für die Rechnungsstellung. We simply LOVE this Programme für das Prozess- und Projektmanagement und für die Rechnungsstellung!" Nach einer aktuellen Studie nutzen 45 Prozent der Mitarbeiter pro Woche sechs bis zehn verschiedene Anwendungen. Drei bis viermal pro Stunde flippen 78 Prozent der Mitarbeiter zwischen Anwendungen hin und her. Jede vierte beklagt den Tool-Overload, ein Drittel beschwert sich, dass die Tools nicht intuitiv in der Nutzung sind. 27 Prozent sagen, dass die eigene Effizienz unter zu vielen Tools im täglichen Arbeitsprozess leide.

 

Die IT ist überfordert

Besonders betroffen sind Mitarbeiter im Home Office. Sie wurden während der Pandemie mit besonders vielen neuen digitalen Tools bedacht. Zum Teil war das nötig, um Tätigkeiten, die bislang nur im stationären Büro stattfanden, zu simulieren. Hier stechen vor allem die digitalen Konferenztools hervor. Ironischerweise sind auch viele Kollegen in der IT nicht begeistert von den ganzen Neueinführungen. Denn sie sind es, die die teuren Programme auf dem neuesten Stand halten, Schulungen und Weiterbildungen veranstalten, im Nachgang den „Troubleshoot“ organisieren und Probleme mit der Software umgehend beheben müssen. Funktioniert diese neue Software bei dir schon? Nein, ich hab ein Ticket bei der IT gezogen, bin aber noch nicht dran. We simply LOVE this new tool.

 

Wir wollen die Referenz

Das Problem beginnt meist schon in der Beschaffung. In der Chefetage wird oft gefragt, welche Software die „Referenz“ für eine bestimmte Problemlösung ist. Man will das beste, klar. Ob die neue Software sich aber in die bestehende IT-Landschaft eines Unternehmens einfügt, wird seltener im Vorfeld geklärt. Und wenn das Neue erst mal da ist, muss es beherrscht werden, mit allen Kollateralschäden inklusive.

 

Eine für alles: Mitarbeiter-Apps

Was also tun? Einige Unternehmen haben gute Erfahrung mit Mitarbeiter-Apps gemacht, die alle Mitarbeiter standortübergreifend nutzen können. Darin ist vielleicht nicht alles technisch auf dem allerhöchsten Niveau, aber die digitalen Tools sind aus einem Guss, etwa Mails, Dokumentenversand oder Videokonferenzen. Vorhandene IT-Systeme und HR-Prozesse lassen sich hier einfach adaptieren, etwa Urlaubs-, Krankmeldungen oder Gehaltsabrechnungen.

 

Den Knochen vorhalten

Mit einer einzigen Software organisationsübergreifend zu telefonieren, chatten, video-konferieren, Dokumente auszutauschen, Errungenschaften per Screen-Sharing teilen und Termine und Aufgaben im Blick zu behalten, ist eine verlockende Vorstellung. Aber sie passt nicht in die IT-Historie vieler Unternehmen. Denn darin stapeln sich die Applikationen. Einige Abteilungen arbeiten noch mit alten Systemen, andere mit neuen. Und manchmal ist nicht klar, was alt und was neu ist, denn die Halbwertszeiten der technischen Errungenschaften sinken rapide, ständig hält uns die Softwareindustrie neue reizvollere Alternativen vor wie einem Hund den Knochen.

 

Erst kaufen, dann fragen

In vielen Firmen tobt deshalb ein Untergrundkrieg. Es gibt Mitarbeiter, die die von den Unternehmen eingesetzte Software so idiotisch finden, dass sie auf einfache Consumer-Lösungen und schnell verfügbare cloudbasierte Anwendungen setzen. In nicht wenigen Unternehmen haben sich an der IT vorbei sogenannte Schattenlösungen etabliert. Das ist die Folge einer wenig strategischen Einkaufspolitik, nach der erst die Software angeschafft wird und erst im Anschluss gefragt wird, welche Probleme sich eigentlich damit lösen lassen. Nur sehr selten werden Prozesse und ihre Funktionen im Vorfeld getestet und hinterfragt.

 

Die Macht der Gewohnheit

So entsteht dann mit der Zeit der digitale Overload, der einen mächtigen Verbündeten hat: die Gewohnheit. Denn wer sich an viele Tools gewöhnt und mit ihnen halbwegs klarkommt, verwechselt irgendwann den Wahnsinn mit der Normalität. Deswegen muss ein Unternehmen, dass sich zur Reduktion seiner digitalen Tools entschließt, mit Widerstand der Mitarbeiter rechnen. Wer will schon die neueste Push-Nachricht des Chefs verpassen? Dabei sollte der Chef einfach mal darauf verzichten, ständig seine digitale Allgegenwärtigkeit zu demonstrieren.

 

Schwarzes Loch

Eine aktuelle US-Studie ging der Frage nach, warum die Menschen zwanghaft dutzende Tabs im Browser offen hielten und ständig zwischen ihnen wechselten, obwohl es sie offenkundig überforderte. Die Auswertung ergab, dass der Wunsch, nichts zu verpassen oder etwas zu vergessen, übermächtig war. Die Menschen hatten schlicht Angst, Inhalte für immer zu verlieren - wie in einem Schwarzen Loch.