BLOG: 14.10.2021

Hybrid arbeiten statt virtueller Hierarchie

Hierarchie & Design

Zunehmend kehren Mitarbeiter von ihren Remote-Arbeitsplätzen ins Büro zurück. Alte Beziehungsgeflechte werden belebt, neue Mitarbeiter „in echt“ kennengelernt. Viele haben im virtuellen Raum eine neue Form der Kommunikation kennengelernt - alte Hierarchien funktionieren nicht mehr wie gewohnt.

Es gibt Chefs, die sich ihrer physischen Präsenz durchaus bewusst sind. Sie überragen entweder andere Menschen an Körpergröße, sind besonders eloquent oder strahlen eine gewisse Gefährlichkeit aus, kurz: sie verbreiten eine gewisse Aura, haben Charisma. Bei einem Videocall ist all dies hinfällig. In Berlin hat kürzlich ein Künstler bei einer Ausstellung einen Anzug präsentiert, der nur aus einer Jacke besteht. Auf den Einwand, dass zu einem Anzug auch eine Hose gehört, entgegnete er: „Ja, aber nicht in den Zeiten von Corona.“

 

Menschen ohne Unterleib

Da ist was dran. In der Ära der Videocalls haben wir uns alle zu Menschen ohne Unterleib entwickelt. Das hat gewisse Auswirkungen auf die Hierarchie. Denn auf dem Bildschirm war oft nicht der ranghöchste Mitarbeiter top, sondern derjenige, der die Technik am besten beherrscht. Oder der mit dem besten Ringlicht oder dem besten Mikrofon punkten konnte. Denn so ist das heute in Coronazeiten: die schlauste Ansprache vom Chef wird zur Farce, wenn seine Stimme verzerrt rüberkommt oder die Verbindung abbricht. Mehr oder weniger unvorbereitet stehen viele Führungskräfte vor der wichtigen Frage: Wie führt man virtuelle Teams? Bei den Arbeitnehmern herrscht ebensolche Unsicherheit, wie man sich in Videokonferenzen richtig und angemessen verhält.

 

Lenin wäre im digitalen Raum verzweifelt

Die Zeit der Pandemie war eine Zeit des digitalen Lernens. Und dass es jetzt vielerorts wieder zurück in die Büros geht, heißt noch lange nicht, dass die „virtuellen Angewohnheiten“ gleich abgelegt werden. Denn auch in den Besprechungsräumen der Unternehmen finden wieder Videocalls statt, an denen Mitarbeiter vor Ort teilnehmen. Führungskräfte mussten Vertrauen neu definieren, denn einem Mitarbeiter, der remote arbeitet, muss per Definition ein Vertrauensvorschuss eingeräumt werden. Direkte Kontrolle über virtuelle Teams fällt schwerer als über Mitarbeiter, die persönlich im Büro präsent sind. Lenin wäre im digitalen Raum total verzweifelt, denn sein Motto „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“ wäre gefloppt. Daran sollten Chefs denken, die die Arbeitszeit ihrer Mitarbeiter gern mit raffinierten Softwaretools engmaschig kontrollieren möchten.

 

Menschen „lesen“ einander

Teams bleiben auch im virtuellen Raum durch komplexe Beziehungsgeflechte geprägt. In diesem Konstrukt muss der Chef aber eher Teil der Gruppe sein als zuvor, ansonsten würde er von der Kommunikation abgeschnitten. Die virtuelle Kommunikation ist insofern eine andere, weil der Sprache eine höhere Gewichtung zukommt. Analoge Kommunikation dagegen ist nicht-sprachlich, dazu gehören Körperhaltung, Gesichtsausdruck und andere Signale, mit denen Beziehungen ausgedrückt werden. Menschen „lesen“ einander, checken jedes Zucken des Mundwinkels, das Rollen der Augen oder das Verschränken der Arme, all dies fließt in einen sinnlichen Gesamteindruck des Gegenübers ein. Im virtuellen Raum ist dies nur sehr eingeschränkt möglich. Das heißt, auch führen wird schwieriger.

 

Corona im Jahr 1980

Im Videocall geht vieles an Körpersprache verloren, das Videobild ist und bleibt nur an matter Abglanz des Menschen in seiner ganzen Pracht. Eine Erkenntnis aber stimmt uns froh. Kaum vorstellbar, wenn Corona im Jahr 1980 zugeschlagen hätte und nicht 2020. Blecherne Telefonate wären unser Schicksal gewesen, und wir hätten unsere Kollegen monatelang überhaupt nicht gesehen. Insofern waren die modernen Videocalls schon ein Segen. Das hier an dieser Stelle als kleiner Tipp für Chefs, die Optimismus gern anhand von Anekdoten verbreiten.

 

Probleme beim Onboarding

Insgeheim sehnen sich viele Führungskräfte nach dem Büro. Denn es gibt nach wie vor viele Situationen im Job, die sich remote einfach nicht gut lösen lassen, wie etwa das Onboarding neuer Mitarbeiter. Denn Angestellte, die schon länger dabei sind, kennen sich von ihren früheren Präsenzarbeitsplätzen und konnten eine persönliche Beziehung zueinander aufnehmen. Den „neuen“ fehlt das völlig, sie sind zwar Teil des Teams, aber ein gewissen Befremden ihnen gegenüber bleibt - bis zu dem Moment, in dem man sich endlich persönlich im Büro begegnet.

 

Den berittenen Boten gab es schon im Mittelalter

Aber für neue Situationen in der digitalen Arbeitswelt gibt es stets Berater, die schnell auf den fahrenden Zug gesprungen sind und auch gleich die richtigen Buzzwords parat haben, zum Beispiel „Remote Leadership“ oder „Digital Leadership“. So neu ist Führung auf Distanz aber nicht. Den berittenen Boten gab es schon im Mittelalter, und auch die darauf folgenden Kommunikationstools waren auch nicht unbedingt abhängig vom persönlichen Kontakt: Telegramme, Telefon, Funk und Fax. Unternehmen sollten aber kommunikativ auf der Höhe der technischen Möglichkeiten sein, um sich nicht zu blamieren.

 

Hybrides Führen

Und so sind Emails, Videokonferenz, digitale Prozesse und Datenaustausch über die Cloud heute feste Bestandteile der Arbeitswelt mit allen Auswirkungen auf die Mitarbeiterführung. Die heute am häufigsten zu sehende Führung ist eine Hybridform. Führungskräfte leiten ihre Mitarbeiter zum Teil über digitale Medien auf Distanz, nutzen aber die Büroräume, um persönlichen Kontakt zu pflegen. Bei bestimmten wichtigen Anlässen wie zum Beispiel Kick-off-Meetings, kommen die Teams in Präsenz zusammen.

 

Fazit: der hybriden Arbeit in Büro und im virtuellen Raum gehört die Zukunft. Die Qualität einer Führungskraft auf Augenhöhe mit der Zeit zeigt sich daran, dass sie die Vorteile beider Welt kennt und sie in spezifischer Situation jeweils klug einsetzt.