BLOG: 13.04.2022

Was für Coworking auf dem Land spricht - und was dagegen

Neue Orte zum Arbeiten

Coworking auf dem Land wird populärer. Der Angst vor bräsigen Dorfgemeinschaften wird durch Clusterbildung vorgebaut und überhaupt: wegen der schier endlosen Pandemie ist die Großstadt nicht mehr das, was sie mal war. Aber auch auf dem Land ist nicht alles grün, was glänzt.

Ach übrigens, wir ziehen um. Als mir das ein Bekannter vor einiger Zeit sagte, schossen mir in dieser Sekunde zwei Gedanken durch den Kopf. Der Erste: man zieht nicht aus Berlin weg, man zieht nach Berlin rein. Denn das ist seit gefühlten Ewigkeiten so. Der Klassiker der Mittvierziger und Fünfziger: Näher bei den Kindern sein, die aus der west- oder ostdeutschen Provinz - wohin? - natürlich nach Berlin gezogen sind. Zum Studieren oder Arbeiten. Der zweite Gedanke: Moment mal, vielleicht ziehen sie ja innerhalb Berlins um. Aber das ist schlichtweg unmöglich.

 

An die Wohnung krallen

Vor 15 Jahren konnten sich Mieter in Mitte und Prenzlauer Berg in der persönlichen Wunschstraße eine Vierzimmerwohnung zum günstigen Preis aussuchen. Das klingt heute wie ein Märchen aus fernen Zeiten. Wird heute so eine Wohnung angeboten, stehen die Leute um drei Blöcke Schlange. Mindestens. Oder, viel wahrscheinlicher, ist die Annonce ein Fake. Wer heute in Berlin eine bezahlbare Wohnung in einem angenehmen Stadtteil hat, hält sich daran ungefähr so krampfhaft fest wie Silvester Stallone in „Cliffhanger“ an der Felskante.

 

„Unterleuten“ gelesen?

Der Bekannte zog übrigens wirklich aus Berlin weg. Ins Umland. In ein Dorf. Für manche Menschen ist es eine schöne Vorstellung, Teil einer Dorfgemeinschaft zu sein. Schützenverein, immer die gleichen Gesichter, herrlich. Ich kenn es anders: Du verirrst dich in eine Dorfkneipe, und alles starrt dich unverhohlen an. Sieh an, ein Fremder. Will der etwa zu uns ziehen? Bloß nicht. Schon „Unterleuten“ von Juli Zeh gelesen? Da steht ja alles drin.

 

Homeland für Großstädter

Leider musste sich mein Bekannter meine Bedenken dieser Art anhören. Lächelnd meinte er nur, er ziehe ja in eine Art Kolonie von ehemaligen Berlinern, die alle in kreativen Berufen arbeiten. Ein Homeland für Großstädter also, Künstlerkolonie 2.0. Und ein Coworking sei auch ganz in der Nähe. Wiederum musste ich staunen. Coworking auf dem Land?

 

Container auf Streuobstwiesen

Ja, das gibt es. Und wird bereits bejubelt. Endlich gibt es das mobile und flexible Arbeiten an gemeinschaftlich genutzten Orten nicht nur in den Ballungsgebieten, sondern auch auf dem Land. In der freien Natur, mit frischer Luft! Was für eine Chance für strukturschwache Regionen! Stellt Coworking-Container auf Streuobstwiesen auf! Schafft Zukunftsorte in klimafreundlicher Umgebung!

 

Abgesagte Großstadt

Mein Spott blieb mir im Halse stecken, dazu musste der Bekannte nur ein Wort sagen: Corona. Denn da liegt der Feldhase im Pfeffer. In Zeiten der Pandemie kann die Großstadt all ihre Vorteile nicht mehr ausspielen, wenn Clubs und Theater geschlossen sind und Konzerte und Ausstellungen abgesagt werden. Was nützt es, in einem hippen Stadtteil zu wohnen und zu arbeiten, wenn man nur aus dem Fenster schaut und Leute mit Masken vorbeilaufen?

 

On top!

Wenn Verabredungen ständig abgesagt werden, weil der oder die ja jetzt auch Corona hat. Dann doch lieber ab in die Natur. Mal durchatmen und die Seele baumeln lassen. „Wie geht es dir?“ Fragt Rene Pollesch in seinem brillanten neuen Stück, dass kürzlich in der Berliner Volksbühne uraufgeführt wurde. Klimakrise! Pandemie! Und jetzt auch noch das! On top! Klar macht auch der Krieg in der Ukraine das Landleben irgendwie attraktiver, weil die Großstädte enger und ungemütlicher werden. Die Angst vor einem Atomschlag ist zwar irgendwie irre, steckt aber doch in den Köpfen drin. Auf dem Land scheint man gefühlt sicherer davor zu sein.

 

Stadt-Muff

Zurück zur Realität. Für ländliche Regionen, die unter Abwanderung und Überalterung leiden, ist Coworking mit Sicherheit eine Chance. Junge Familien ziehen aufs Land, und die Infrastruktur wird ausgebaut. Denn ohne schnelles Internet ist ein Coworking auf dem Land nicht vorstellbar, und daran hapert es trotz aller vollmundig verkündete Ausbauplänen noch vielerorts. Die Weisheit „Stadtluft macht frei“ klingt seit der Corona-Pandemie allerdings noch muffiger.

 

Weniger Akademiker

Denn Corona hat das Landleben wieder en vogue gemacht, Umfragen zufolge lebt eine Mehrheit der Deutschen ohnehin lieber im Grünen als in der Großstadt. Erste Studien zu Coworking auf dem Land zeigen signifikante Unterschiede zur großstädtischen Variante auf. Auf dem Land ist diese Arbeitsform vor allem bei Angestellten beliebt. Der Anteil an Nicht-Akademikern ist höher, die Altersstruktur und das Berufsspektrum breiter.

 

Brandenburger Hotspots

Arbeiten, wo der Hahn kräht - sogar der Nukleus der großstädtischen Coworking-Szene aus Kreativ-, Digital- und IT-Wirtschaft drängt mittlerweile ins Grüne. Makler bemerken eine verstärkte Anfrage nach zuvor unverkäuflichen, weil einsam gelegenen Landgütern und leerstehenden Ladenlokalen in Dörfern oder Kleinstädten. Besonders in einigen „Hotspots“ in Brandenburg steigt die Nachfrage, was wiederum ein Beleg für die „Kolonisten-Kultur“ ist.

 

Unbeliebte Neusiedler

Denn die neuen Ländler suchen gezielt Cluster aus, in denen sich schon ihresgleichen angesiedelt haben, denn so lässt sich die Nähe zu vermeintlich bräsigen vorhandenen Dorfgemeinschaften vermeiden. Dass diese Tendenz zur Abgrenzung die Beliebtheit der Neusiedler in den Dörfern besonders steigert, ist bislang nicht bekannt geworden. Vor allem Westdeutsche dürften es im Berliner Umland gelegentlich etwas schwerer haben. „Besser-Wessie“-Gehabe kommt im Datschen-Dorado traditionell weniger gut an.

 

Endlich: Steuerzahler auf dem Land

Lokale Netzwerke, die für städtische Coworkings ein Erfolgsfaktor sind, sind auf dem Land meist nicht vorhanden und müssen quasi mitgebracht werden. Dafür sind Grund und Flächen unschlagbar günstig. Mit der Kommunalpolitik und der ortsansässige Wirtschaft lassen sich meist schnell Verbündete finden. Gerade Politiker auf dem Land lechzen nach steuerpflichtigen Zuzüglern, müssen dann aber auch für eine gute Breitbandausstattung sorgen. Hier bleibt gerade die städtisch orientierte IT-Branche skeptisch.

 

Spritpreise sind für Pendler ein Argument

Anders sieht es mit Geschäftsmodellen rund um nachhaltige Energie oder Ernährung aus, in diesen Kreisen fühlt man sich dem Land näher. Eine Umfrage bei Nutzern von städtischen Coworking-Spaces hat gezeigt, dass diese mindestens einmal pro Woche dort arbeiten, um Pendlerwege zu reduzieren. Durch die hohen Kraftstoffpreise ist dieses Argument noch einmal wichtiger geworden - und gilt besonders für das ländliche Coworking. Wer auf dem Land wohnt und darauf zurückgreifen kann, spart sich noch längere, teurere Fahrten in die Innenstadt.

 

Empfehlenswerte Coworking-Spaces im Berliner Umland

The VIELD im Ruppiner Seenland

Der Offsite Innovation Space setzt auf Teamwork in inspirierender Atmosphäre, in einem ehemaligen Kuhstall wird an neuen Ideen getüftelt. Einmalig der WLAN-Störer im Kaminzimmer für das gepflegte digital detox. Ein echter Pluspunkt: die sehr sympathische Gründerin.

www.thevield.com

 

Coconat in Bad Belzig im Fläming

Im leerstehenden Gutshof geben sich naturbewusste Digitalnomaden die Klinke in die Hand. Auch Kreativabteilungen großer Unternehmen haben die dörfliche Atmosphäre für sich entdeckt. Teambesprechungen können auch auf einem Floß abgehalten werden.

www.coconat-space.com

 

RossVita in Neuenhagen

Bibi und Tina goes IT: Das RossVita lockt vor allem Pferdebegeisterte an, die das Arbeiten mit ihrem Hobby verbinden wollen. Neben einem modernen Coworking-Space finden sich hier eine Reithalle, ein Ausreitgelände sowie Wald und Wiesen. Pendeln war ohnhin gestern, und wie sagte schon Wilhelm II.: „Das Auto hat keine Zukunft. Ich setze auf das Pferd.“

www.rossvita-coworkingspace.de

 

ThinkFarm in Eberswalde

Der 2018 gegründete Coworking Space ist eine Bürogemeinschaft, die eine nachhaltigere Gesellschaft anstrebt. Gut ausgestattete Büroarbeitsplätze mit Schreibtisch, schnellem Internet, Telefonanschluss und Drucker stehen als feste Arbeitsplätze oder als „Flexdesk“ zur Verfügung - da fühlt man sich doch gleich wie in Berlin-Mitte.

https://thinkfarm-eberswalde.de