BLOG: 09.03.2022

Der radikale Weg zur Work-Life-Balance 2.0

Time matters

Wie wollen wir in Zukunft arbeiten? Die Generation New Work hinterfragt unsere Leistungshingabe und das Wertesystem, das aus der Balance gekommen ist. Wir sehen auch, dass die Überarbeitungskultur gedeiht - mit langen Arbeitszeiten und ständiger Erschöpfung als Begleiterscheinung. Arbeit und (Privat-)Leben können nicht mehr klar voneinander getrennt werden. Aus Work-Life-Balance wird Work-Life-Integration.

Eine echte Work-Life-Balance zu erreichen ist, als würde die Zahl hinter dem Wörtchen Posteingang auf Null stehen. Bei mir steht da 7.240. Obwohl diese ungelesenen Nachrichten primär aus Newsletter bestehen, stresst mich die Zahl. Einmal im Quartal verschwende ich einen Abend, diese Zahl zu reduzieren. Posteingang Null. Das klingt wie ein unerreichbarer Traum. Als würde das Apple-Team meine Gedanken lesen - was es auf Basis der globalen Vernetzung und des uneinsehbaren Datenhandels wahrscheinlich auch tut - sehe ich mir auf Apple+ eine äußerst surreale TV-Serie namens ‘Severance’ an. 

Die Show, die auf Apple TV Plus gestreamt wird, hat ihren Namen von einem chirurgischen Eingriff, bei dem das Gehirn von Menschen zweigeteilt wird, wodurch zwei unterschiedliche Personen entstehen: eine für die Arbeit, eine für das Privatleben. Die Handlung fühlt sich wie eine Mischung aus Black Mirror und The IT Crowd an; sie erkundet, wie weit Kapitalismus und Technologie bereit sind zu gehen. Im Mittelpunkt der Geschichte steht ein Unternehmen namens Lumon Industries, ein Megakonzern im Stil von Amazon, indem es sensible Dokumente zu sortieren gilt. Anstelle einer NDA-Vereinbarung für die Mitarbeiter, injiziert das Unternehmen Chips in ihr Gehirn, die den Zugriff auf die Erinnerungen einer Person „räumlich diktiert“. Die Erinnerungen sind explizit an einen Ort gebunden. Was im Büro passiert, bleibt im Büro.

 

Work, Life oder Balance?

Ist das die Vorstellung eines neuartigen Work-Life-Balance Modells? Dass man sein Leben zwanghaft trennt - weil gute Vorsätze nichts bringen - und Arbeitsprobleme bei der Arbeit lässt, um sich auf den Rest konzentrieren und entspannt 'freuen' zu können? In der TV-Serie schafft das Severance-Verfahren zwei Köpfe im selben Körper: Der eine lebt ein normales Leben, der andere ist in einer diabolischen Existenz gefangen, in der er das Büro niemals verlassen kann. Und die beiden sind nie in der Lage zu interagieren. Negativität als Stimmungsbild ist nicht erlaubt und Händeschütteln nur auf Anfrage möglich. Die einzige Möglichkeit, aus diesem Modell auszubrechen, besteht darin, eine Anfrage bei seinem anderen Selbst einzureichen; da dieses Selbst des Privatlebens keine Ahnung hat, wie schlimm die Dinge im Büro sind, kommt als Antwort immer ‘nein’. Nach den ersten drei Folgen dachte ich, dass auch so die Zukunft der Arbeit aussehen kann. Wer nicht mehr ins Büro will, wird dieser Behandlung von der Unternehmensführung unterzogen. Unrealistisch? Nö. In Deutschland vielleicht nicht so rasch. Anderswo? Wahrscheinlich. Oder hätten Sie jemals gedacht, dass das social-credit System in China tatsächlich Realität wird? 

Die Generation New Work will eine gesunde Work-Life-Integration. Nicht 8 Stunden am Schreibtisch zu verbringen und zwischendurch Däumchen zu drehen. Unsere Leistungsgesellschaft befindet sich immer noch im Work-Modus. Keine Spur von Life, schon gar nicht von Balance. Integration der beiden Felder passiert nun automatisch, weil wir das dank Smartphone immer erreichbar sind. 

 

Die Überarbeitungskultur gedeiht

Als Gegenströmung gibt es eine höchst problematische Bewegung: die Overworking-Culture. Ihre Mitglieder profilieren sich durch viele Überstunden und die Tatsache, dass sie deshalb auch keine Zeit mehr für ein Privatleben haben. Auf TikTok diskutiert die Generation Z offen über ihre Probleme mit der psychischen Gesundheit und baut Communities auf, in denen Depressionen, Panikattacken und Burnout offen angesprochen werden. Während uns die Kommunikationstechnologie ermöglicht, auf unbestimmte Zeit von zu Hause aus zu arbeiten, bindet sie viele auch daran, den ganzen Tag zu arbeiten. Wenn es einen Gruppencall gibt, bei dem Mitarbeiter aus Düsseldorf, London, Tokio, New York und Dubai eingeladen sind, müssen einige Leute um 02:00h früh aufwachen, um sich einzuwählen. Wenn sie es nicht tun, wird das Unternehmen mittelfristig jemanden finden, der es tut – denn solange unsere Gesellschaft Geld, Status und Leistung belohnt, wird es immer Menschen geben, die hart dafür arbeiten. Unternehmen haben damit begonnen, Programme zur psychischen Gesundheit für Arbeitnehmer anzubieten, darunter Vergünstigungen wie kostenlose Therapiesitzungen, kostenloser Zugang zu Wellness-Apps oder einen eigenen Lebens- und Sozialberater im Haus.

 

Was erwarten Angestellte heute?

Klare Arbeitszeiten mit einer gefühlt richtigen Balance der Arbeitszeit ist bei der Wahl des Arbeitgebers inzwischen zum Wettbewerbsfaktor geworden. Unternehmenskultur als Distinktions-Faktor. Hier einige Beispiele, welche Aspekte immer mehr Angestellte erwarten: 

- Arbeitszeittreue des Unternehmens

- Flexibilisierung der Arbeitszeit

- Flexibilisierung des Arbeitsorts

- Zeitsouveränität

- Respekt vor den persönlichen Interessen (Kurse, die einen Ausgleich zur Arbeit bieten - Sport, Handwerk, etc)

- Betriebssport, vergünstigte Mitgliedschaften in Fitnessstudios, sportliche Events

- Freizeitangebot für Pausen (Tischfußball, gemütliche Sitzecken, Schaukeln, Gaming Rooms, Massagen)

- Teambuilding Maßnahmen (gemeinsames Grillen, Betriebsausflüge, Sommerfeste und Weihnachtsfeiern)

- Psychologische Beratung (firmeninterne Psychologin / Lebensberaterin)

 

Flexibilität am Prüfstand

Wie geht ein Unternehmen mit dem Bedürfnis einer Mitarbeiterin um, die alleinziehend ist und deren Kind von der Covid-Quarantäne in eine Kinderkrankheit und dann auch noch in eine Magen-Darm-Grippe schlittert? Oder wie geht es mit einem Mitarbeiter um, der gerne und viel joggt und am Vormittag um 10:00 Uhr seine beste Zeit läuft? Wie mit Mitarbeitern zusammenarbeiten, die um 16:00 Uhr nach Hause wollen, um lieber unter der Woche Einkäufe zu erledigen und dann abends um 21:00 Uhr noch zwei Stunden zu arbeiten? Wie steht es um die Flexibilität der Präsenz im Büro? Akzeptieren die Unternehmen die gewünschte Flexibilität auf der einen Seite, deren Widerstreit mit z. B. dem Arbeitszeitschutzgesetz auf der anderen? Gerade die jüngere Generation verweigert es, in einer Gesellschaft zu leben, in der mentale Gesundheit weniger zählt als Karriere und Erfolg. 

Die 'Ohne Fleiß kein Preis' Rhetorik der Generation X-Vorgesetzten wird von der Generation New Work abgelehnt. Das Verständnis hält sich auf beiden Seiten in Grenzen. Während sich die Älteren über das 'fehlende Durchhaltevermögen' der jungen Mitarbeiter mockieren, zeigen die jungen Chefs, was geht. Die Mitarbeiter einer Bielefelder IT-Agentur arbeiten nur fünf Stunden am Tag. Das ist eine 25h Woche. In dieser Zeit gibt es einen beinharten Fokus auf die Arbeit - ohne Ablenkung, viertelstündigen Rauchpausen oder dem Dauerlauf der Kaffeemaschine. Work hard, play hard. In manchen Ländern, wie Spanien, wird die 4-Tage-Woche als Modellprojekt getestet. Denken Sie doch mal an die Zeiten, als Home Office für viele Unternehmen undenkbar war. Undenkbar ist heute, dass es diese Flexibilität nicht mehr gibt.

 

Vielversprechende Zukunftsaussichten

Zahlreiche Langzeitanalysen bestätigen, was jeder instinktiv vermutet: Eine 35-Stunden-Woche hatte keine gesunkene Qualität der Arbeit und Produktivität der Arbeitnehmer zur Folge – in manchen Fällen verbessern sie sich sogar. Die Fälle von Burnout sanken und endlich nahmen Männer daheim auch mal den Staubsauger in die Hand. Unglaublich, nicht? Vor allem für die Ü40-Generation X, der seit früher Jugend eingeredet wurde, dass beruflicher und persönlicher Erfolg eng verknüpft sind mit Überstunden und absoluter Erschöpfung. Die Generation Y weigert sich hingegen, faire Bezahlung, flexiblere Arbeitszeit und mehr Selbstbestimmung aufzugeben. Die neue Generation des 21. Jahrhunderts will sich nicht bis zum Burnout abrackern, um am Ende mit einer mickrigen Rente in die Altersarmut abzugleiten. 

 

Arbeitszeit und Freizeit effektiver nutzen

Work-Life-Balance bedeutet, beide Bereiche getrennt voneinander zu betrachten. Work-Life-Integration geht nicht von zwei getrennten Bereichen aus, sondern sieht vor, beide miteinander zu verbinden beziehungsweise zu vereinbaren. Es geht nicht darum, Arbeit auf der einen und das private Leben auf der anderen Seite zu haben, sondern eine integrative Verbindung herzustellen. Diese Ansicht entspricht der Philosophie immer mehr Menschen.