BLOG: 09.11.2022

Recruiting an der Grenze der Verzweiflung

Recruiting 2.0

Zunehmend verabschieden sich Fachkräfte vom Arbeitsmarkt. Unternehmen scheuen keine Mühe, den begehrten jungen Nachwuchs anzulocken. In den USA beginnen Konzerne schon damit, Talente auf Verdacht einzustellen. Obwohl es für sie derzeit nichts zu tun gibt.

Wir reden kaum mehr von Arbeitslosigkeit, sondern von einer großen Arbeiterlosigkeit. In unzähligen Branchen fehlen Fachkräfte. Wer einmal seinen Job, ob in der Gastronomie, in der Pflege oder sonst wo aufgegeben hat, kehrt selten zurück. Die Hintergründe dafür sind vielfältig. Aber über allem steht der demographische Wandel. Die Babyboomer-Generation verabschiedet sich langsam aber sicher aus dem Erwerbsleben. Und die ihr folgenden Alterskohorten sind vor allem eines: viel kleiner. Die Zahlen einer McKinsey-Studie sind zum Fürchten: Über 19 Millionen US-Angestellte haben seit April 2021 ihren Job gekündigt. 40 Prozent der befragten Mitarbeitenden aus Australien, Kanada, Grossbritannien und den USA gaben an, kündigen zu wollen. McKinsey nennt es die „Great Attrition“, die Große Abwanderung.

 

Die Große Abwanderung

Laut einer aktuellen Befragung von Personio unter 2000 Mitarbeitenden und 500 Personal-Entscheidern in Deutschland, der Schweiz,  und Österreich plant fast jeder Zweite (45 Prozent) seinen Job zu wechseln. Eine Studie im Auftrag von Robert Half kommt zu einem vergleichbaren Ergebnis. Die Große Abwanderung ist für Unternehmer ein ziemliches Drama. Die Suche nach Fachkräften gleicht einer Suche nach der Perle in der Muschel. In ihrer Verzweiflung schalten sie Stellenanzeigen, in denen sie sich ins beste Licht stellen. Manche der Darstellungen sind dabei so absurd, dass Bewerber mit dem Kopf schütteln.

 

Großkonzern mit Start-Up-Mentalität

Ein sehr beliebter Klassiker ist der „Großkonzern mit Start-Up-Mentalität“. Jeder, der nur halbwegs seine Tassen im Schrank hat weiß, dass es sowas nicht gibt. Kein etablierter Konzern kann die elektrisierende Startphase einer Neugründung beleben, es sei denn als unglaubwürdige Simulation. Gern werden auch „gelebte menschliche Werte“ ins Schaufenster gestellt. Wer schon mal in einem Unternehmen gearbeitet hat weiß, dass die persönliche Leistung an erster Stelle steht, und das zu Recht. Man wird nicht vorrangig dafür bezahlt, menschliche Wärme zu verbreiten. Wer als Unternehmen das Menschliche in seiner Selbstdarstellung groß herausstellt, sollte wenigstens ein paar konkretere Beispiele mitliefern.

 

Punkte bei der Glaubwürdigkeit

In einem besseren Licht erscheint da schon das  „inhabergeführte, sozial engagierte Unternehmen.“ Wenn der Chef persönlich für seinen Laden einsteht, gibt das schon mal Punkte bei der Glaubwürdigkeit. Das gilt besonders für Familienunternehmen, die bewiesen haben, dass sie über Generationen hinweg ihren Betrieb zusammengehalten haben. Und denen soziale Aspekte nicht fremd sind.

 

In der Not wird abgeworben

Das in den USA bekannte „Hire and Fire“-Prinzip ist auf dem deutschen Arbeitsmarkt nicht denkbar. Das führt aber auch dazu, dass Firmen sich die Leute genau anschauen, mit denen sie die nächsten Jahren zusammenarbeiten wollen - Arbeitskräftemangel hin oder her. Exzesse wie zuletzt bei Twitter sind hierzulande kaum vorstellbar: die Hälfte der Belegschaft fliegt raus, um dann zu merken, dass einige, die für den Betrieb unverzichtbar sind, aus Versehen gefeuert wurden und zurückgeholt werden müssen. Ein in den USA gängiges Phänomen ist aber auch längst bei uns angekommen: das Abwerben von besonders begehrten Fachkräften. In den USA machen Apple und Tesla vor, wie man fleißig Mitarbeiter voneinander abwirbt. Hierzulande geschieht das diskreter. Da ist man dann zunächst „im Gespräch“, wie zuletzt bei Puma-Boss Gulden, der zum 01.März 2023 zum Erzrivalen Adidas wechseln wird.

 

Bemerkenswerter Optimismus

Nach dem Abflauen der Corona-Pandemie war in den Personalabteilungen durchaus Hoffnung eingekehrt. Einer globalen Umfrage der Karriereplattform Monster zufolge wollten 2022 tatsächlich 93 Prozent der Unternehmen neue Mitarbeiter einstellen, eine deutliche Steigung gegenüber dem Vorjahreswert von 81 Prozent. Knapp die Hälfte der Stellen sollen keine Nachbesetzungen, sondern völlig neu geschaffene Stellen sein - auch das eine bemerkenswerte Zahl. Wie die 86 Prozent der befragten Personaler, die davon ausgehen, dass sie die offenen Stellen 2022 besetzen können. Die Abrechnung am Jahresende dürfte interessant werden. Zu vermuten steht, dass der Optimismus doch zu groß war. Denn es war kaum jemals schwieriger, qualifizierte Arbeitskräfte zu finden.

 

Die eierlegende Wollmilchsau

„Schuld“ daran hat auch die Pandemie. Viele Mitarbeiter haben sich während der Lockdowns ans Home Office gewöhnt. Hinter vorgehaltener Hand heißt es, dass es auch ganz entspannt sein kann, wenn die direkte Kontrolle durch Vorgesetzte entfällt. Zugegeben wird das seltener, man drückt sich eher so aus: ich möchte meine Work-Life-Balance verbessern. Das Gehalt soll natürlich trotzdem steigen, gerade in Zeiten einer steigenden Inflation. Beim Recruiting stehen sich Arbeitgeber und Bewerber zunehmend unversöhnlich gegenüber. Der Bewerber fordert maximalen Lohn und Flexibilität, der Arbeitgeber die „eierlegende Wollmilchsau.“

 

Hoffnung auf die Digital Natives

Eine Möglichkeit, das zusammenzubringen heißt Weiterbildung. Der Arbeitgeber sieht ein, das er auf einem sich verknappenden Angebot an Talenten 'Mister oder Misses Right' kaum findet. Warum nicht mal Mister oder Misses 'Why Not' nehmen und entsprechend weiterbilden?

Recruiter mahnen oft das Fehlen von Softskills wie Verlässlichkeit, Kommunikation, Teamwork oder Flexibilität an. Bei den Hardskills gibt es bei IT- und Computerkompetenzen und strategischer Planung Defizite. Aber die lassen sich zumindest ansatzweise durch Weiterbildung ausbügeln. Die gute Nachricht dabei ist, dass die auf den Arbeitsmarkt strebenden Millennials und Generation Zs als Digital Natives eine größere Affinität zu digitalen Tools und KI-Systemen mitbringen.

 

Unternehmen müssen Schritt halten

Sie sind auch fitter in Kollaborationssoftware und hybriden Arbeitsprozessen. Wer mit ihnen aber in Kontakt treten will, muss sich mit Mobile Recruiting beschäftigten. Denn die jungen Talente schicken ungerne Papier-Konvolute in der Weltgeschichte herum, sondern mögen es schnell und unkompliziert. Unternehmen sind also gut beraten, auf Lebenslaufdatenbanken, das Ausspielen von Jobanzeigen durch Targeting, die Kontaktaufnahme via direct messaging und andere digitale Bewerbungs-Managementsysteme zu setzen.

 

Kein Witz: die Pünktlichkeitsprämie

In ihrer Not kommen manche Unternehmen auf schrullige Ideen. Ein Schornsteinfeger konnte kürzlich sein Glück nicht fassen, denn er hatte genug junge Mitarbeiter gefunden, um seinen Handwerksbetrieb am Leben halten zu können. Schnell stellte er aber fest, dass die Neueingestellten ein gewisses Problem damit hatten, morgens früh aufzustehen. In früheren Zeiten hätte er wahrscheinlich mit einem Rauswurf gedroht. In der neuen Normalität gelten andere Regeln. Der Schornsteinfeger zahlt allen, die rechtzeitig zur Arbeit erscheinen, eine Pünktlichkeitsprämie.

 

Voll gepampert

Wie man seine Mitarbeiter so richtig pampert, könnte sich der wackere Schornsteinfeger auf dem US-Arbeitsmarkt abgucken. Dort sind die Unternehmen gegen die „Große Abwanderung“ in Stellung gegangen. Die Konzerne bieten ihren Mitarbeitern eigene Betriebsärzte, Massagen und Sportangebote, manche sogar einen Raucherentwöhnungskurs. Betriebliche Gesundheitspräventionsmaßnahmen oder Sport mit den Kollegen stärken Gesundheit, Arbeitsklima und die Produktivität. Da die USA das Land der Kreditkarten sind, gehören auch Prepaid-Kreditkarten ins Programm. Unternehmen können ihren Mitarbeitern eine mit einer bestimmten Geldsumme aufgeladene Kreditkarte zur Verfügung stellen, die der Arbeitnehmer dann für das einsetzen kann, was er möchte. Manche zahlen auch einfach eine monatliche Prämie aus. Damit kann jeder machen, was er will.

 

Einstellen auf Verdacht

Eine bemerkenswerte Nachricht kam kürzlich vom Alphabet-Konzern, dessen bekanntestes Produkt die Suchmaschine Google ist. Das Unternehmen hat in den vergangenen Monaten zahlreiche Programmierer eingestellt, die aber derzeit noch kein Aufgabe haben. Einfach auf Verdacht und der Angst heraus dass der Pool an Fachkräften in den kommenden Jahren leergefischt sein könnte. Für die neu Eingestellten ist das eine super Sache. Sie haben jede Menge Zeit, die vielfältigen Freizeit- und Service-Möglichkeiten des Konzerns aus dem kalifornischen Mountain View auszuprobieren. Etwa den hauseigenen Waschsalon, den Spa- und Wellnessbereich, die frei nutzbare Schwimmbäder und Massagen.